Beruflich neu anzufangen, ist keine Frage des Alters. Die Zahl derer, die spät oder nach beruflichen Umwegen noch einmal eine Ausbildung beginnen, steigt. Für Unternehmen, die angesichts fehlender Azubis und Fachkräfte neue Ressourcen erschließen müssen, sind die Lehrlinge mit Lebenserfahrung Chance und Herausforderung zugleich.
Sonya Kattoub ist verheiratet und Mutter von fünf Kindern. Drei sind inzwischen erwachsen, der jüngste Spross acht Jahre alt. Lange Zeit bestimmten Familie und Haushalt ihren Alltag, nun aber – mit 44 Jahren – will sie beruflich noch einmal durchstarten. Im August 2020 trat sie im Kölner Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e.V. eine Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement an. Azubi mit 44? „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ sagt die gebürtige Libanesin.
Kattoub kam 1995 nach Deutschland und brach dafür eine Ausbildung zur Informatikerin ab. Sie lernte Deutsch, machte den Führerschein, gab Arabischkurse und arbeitete ehrenamtlich im Begegnungs- und Fortbildungszentrum, das ihr nun die Ausbildung in Teilzeit ermöglicht. 25 Stunden pro Woche verbringt Kattoub im Betrieb und in der Berufsschule. Dass einige Kollegen und Mitschüler so alt sind wie ihre Kinder, stört sie nicht. „Aber es erfordert sehr viel Disziplin, den Beruf mit der Familie zu vereinbaren und nebenbei noch den Schulstoff zu lernen“, sagt sie.
Azubis werden immer älter
Wiedereinstieg nach der Familienpause, unglücklich im aktuellen Beruf, arbeitsuchend nach Krankheit – die Gründe sind vielfältig und Ältere in Ausbildung längst keine Ausnahme mehr. Laut Datenreport des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) entfielen 2018 mehr als zwölf Prozent der 522.000 neu geschlossenen Ausbildungsverträge auf die Gruppe der 24- bis 39-Jährigen, fast doppelt so viele wie noch 2008. Mehr als 1.700 Azubis waren jenseits der 40, eine Steigerung um fast 150 Prozent. „Mit Blick auf die zunehmende Digitalisierung und den schnelleren Wandel der Arbeitswelt wird dieser Trend keine kurzfristige Randerscheinung sein“, meint BIBB-Präsident Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser. Die Entwicklung zukunftsgerichteter Konzepte zur Förderung von beruflicher Ausbildung und Umschulung dürfe deshalb nicht auf die lange Bank geschoben werden.
Für die Wirtschaft sind Bewerber, die sich erst spät oder nach beruflichen Umwegen für eine Ausbildung entscheiden, eine wertvolle Ressource. „Weil der wachsende Bedarf an Fachkräften immer weniger auf konventionellen Wegen gedeckt werden kann, ist es wichtig, neue Zielgruppen zu erschließen. Die duale Aus- und berufliche Weiterbildung sichert den Betrieben die Fachkräftebasis von morgen“, sagt Christian Ludwig, Sprecher der Bundesagentur für Arbeit. Allein im Berichtsjahr 2019/2020 vermittelte die Arbeitsagentur rund 216.000 Bewerber in Ausbildung, davon waren rund 10.000 älter als 25 Jahre. Zusätzlich erlangten 2019 mehr als 23.000 Umschüler zwischen 25 und 35 Jahren eine abgeschlossene Berufsausbildung. „Wir sensibilisieren Arbeitgeber dafür, sich alternativen Bewerbergruppen zu öffnen, und bringen sie bei Interesse mit älteren Ausbildungssuchenden zusammen“, so Ludwig.
Das Lernen neu lernen
Für Carsten Berg, Leiter Ausbildung der IHK Köln, liegen die Vorzüge auf der Hand. „Ältere Azubis bringen kognitive Kompetenzen mit und haben in der Regel eine gefestigte Vorstellung von ihren beruflichen Zielen. Sie gehen selbstständig und reflektiert an neue Lerninhalte heran.“ Gerade in Berufen mit beraterischem Anteil und Kundenkontakt, in denen Akzeptanz eine wichtige Rolle spiele, könnten ältere Azubis von Vorteil sein, meint Berg. Doch er kennt auch die Herausforderungen: „In die Rolle des Auszubildenden oder Umschülers müssen auch sie sich erst einmal einfinden, vor allem dann, wenn ihre Vorgesetzten oder Lehrer jünger sind. Da die Schulzeit länger zurückliegt, muss vielleicht auch das Lernen neu gelernt werden und der Azubi dabei gezielt unterstützt werden.“
Das Kölner Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen hat mit Azubis jenseits der 30 nur gute Erfahrungen gemacht. „Sie sind motiviert, fleißig und tolerant, bringen Lebenserfahrung und Gelassenheit mit“, lobt Geschäftsführerin Hanim Ezder. Es sei nie zu spät, etwas aus den eigenen Talenten zu machen und ein Vorbild zu sein – auch für die eigenen Kinder. So wie Sonya Kattoub, die ihrem Traum von einer abgeschlossenen Ausbildung jeden Tag ein Stück näherkommt.
Wissenswertes zum Thema „Ältere Azubis“
- Altersneutrale Stellenausschreibung
Bei der Besetzung freier Ausbildungsstellen dürfen Unternehmen nicht explizit nach einem „jungen“ Bewerber suchen, sonst drohen Schadensersatzansprüche. Freie Stellen müssen altersneutral ausgeschrieben werden, so will es das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Benachteiligungen im Erwerbsleben aufgrund des Alters verbietet. Das Gesetz soll verhindern, dass sich bestimmte Bewerber von Stellenanzeigen ausgeschlossen fühlen. Die Einschränkung auf eine Altersgruppe ist nur dann zulässig, wenn das Alter eine wesentliche Anforderung an den Arbeitsplatz darstellt, wie etwa bei Polizisten oder Feuerwehrleuten. - Erfahrener Nachwuchs
Ältere Azubis bieten Unternehmen viele Vorteile. Neben Lebenserfahrung und Souveränität bringen sie eine hohe Lernbereitschaft und Arbeitsmoral mit. Sie sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, und oft ein Vorbild für ihre Mitschüler und Kollegen. Besitzen sie berufliche Vorkenntnisse, erlaubt das Berufsbildungsgesetz eine Verkürzung der Regelausbildungszeit. Ältere Azubis stehen ihrem Betrieb dann schneller als vollwertige Fachkraft zur Verfügung – und bleiben diesem mit hoher Wahrscheinlichkeit erhalten, denn in vielen Fällen ist die Familien- und Karriereplanung schon abgeschlossen. - Finanzielle Unterstützung
Miete, Familie, Auto – dafür reicht ein Lehrlingsgehalt häufig nicht. Helfen können Förderprogramme wie „WeGebAU“ oder „Zukunftsstarter”, mit denen die Agentur für Arbeit auch ältere Azubis unterstützt. Unter bestimmten Voraussetzungen können diese zudem Leistungen wie Berufsausbildungsbeihilfe oder einen Bildungsgutschein erhalten. Ob duale Ausbildung oder Umschulung – zu allen Fördermöglichkeiten berät die jeweilige Arbeitsagentur vor Ort. Dort können auch Ausbildungsbetriebe Unterstützung bekommen, zum Beispiel Zuschüsse aus dem Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“.
Sylvia Rollmann
Freie Journalistin