NRW zahlt 1,9 Millionen Euro für muslimische Vereine

Es geht nicht nur um Religion: NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) und Hanim Ezder sprechen über Integration und Gesellschaftspolitik.

Frau Paul, Sie fördern Projekte alevitischer und muslimischer Vereine mit 1,9 Millionen Euro. Was sind die Kriterien dafür?

Josefine Paul: Wir wollen durch diese Förderung sichtbar machen, wie breit zivilgesellschaftliches Engagement in Nordrhein-Westfalen ist – gerade auch im Bereich des alevitischen und muslimischen Engagements ist es außerordentlich vielfältig und gar nicht ausschließlich bezogen auf religiöse Fragestellungen, wie man oft meint. Vielmehr sind die Vereine kraftvoll im Gesellschaftspolitischen aufgestellt, zum Beispiel mit der Arbeit für Frauen, aber auch in vielen anderen Bereichen bis hin zu Umwelt- und Klimaschutz. Das zu unterstützen und das Engagement noch sichtbarer zu machen, ist Ziel der Förderung.

Frau Ezder, Sie sind Geschäftsführerin des Begegnungs- und Fortbildungszentrums für muslimische Frauen (BFmF) in Köln – bei dem auch Männer mitmachen dürfen.

Hanim Ezder: Wir haben zehn Männer, die mitarbeiten dürfen! Wer sagt, dass Gleichstellung nur eine Frauenfrage ist? Im Ernst, wir haben uns vor 26 Jahren gegründet, damals als reiner Frauenverein auf komplett ehrenamtlicher Basis, aber von Anfang an unabhängig, gehören also keiner Moscheegemeinde an. Unser Anliegen war schon bei der Gründung, professionell zu arbeiten, und dafür braucht es Geld. Inzwischen verfügen wir über 85 festangestellte Kolleginnen und Kollegen, wobei es auch weiterhin Ehrenamt gibt.

Gibt es vergleichbare Organisationen in NRW oder in ganz Deutschland?

Ezder: In dieser Konstellation sind wir bundesweit einzigartig, obwohl neuere Vereine sich ebenfalls auf den Weg machen. Unser Spektrum ist sehr breit, es reicht von der Verbraucher- und Insolvenzberatung über die Kinderbetreuung und die Integrationsagentur, über momentan 19 Deutschkurse täglich, bis hin zu vielfältigen Bildungsangeboten. Wir sind eine große Institution. Seit über 26 Jahren führen wir Frauen erfolgreich zum Hauptschulabschluss. Eine Teilnehmerin etwa, die sich bei uns auf den Schulabschluss vorbereitet hat, hat nun in Köln-Chorweiler eine Zahnarztpraxis eröffnet. Und das hat wiederum ermutigende Rückkopplungseffekte auf unser Zentrum und die Teilnehmenden.

Paul: Es ist keine Voraussetzung für unsere Förderung, dass man bereits so groß und professionell aufgestellt ist wie das BFmF. Es geht gerade um die Förderung von Entwicklung und Professionalisierung. Was Sie, Frau Ezder, aufgebaut haben, geschah ja auch nicht von heute auf morgen. Oftmals ist in der Breite gar nicht bekannt, wie vielfältig die Landschaft migrantischer Organisationen geworden ist – hier wollen wir Netzwerke stärken.

Kooperation mit der Polizei, um Ängste der Migrantinnen abzubauen

Wen umfasst ein solches Netzwerk, Frau Ezder?

Ezder: Zum Beispiel kooperieren wir mit der Polizei – wir führen Teilnehmende in die Ehrenfelder Wache, damit sie ihre Ängste verlieren: Frauen, die Gewalt erleiden mussten, brauchen einen leichteren Zugang zu solchen Stellen. Wir arbeiten also bei weitem nicht allein mit religiösen Einrichtungen zusammen, sondern veranstalten auch Fortbildungen für verschiedene Institutionen und Behörden der Stadt Köln. Natürlich bewegen wir uns auch im Rahmen der muslimischen Selbsthilfeorganisationen, aber unser Aktionsradius reicht weit darüber hinaus.

NRW hat eine lange Geschichte im Blick auf Migration, schon im Deutschen Kaiserreich zum Beispiel kamen Zuwanderer aus Polen an Rhein und Ruhr. Welche Etappen hat diese Geschichte genommen?

Paul: Angefangen bei polnischen Stahl- und Bergarbeitern führte diese Geschichte zu den sogenannten Gastarbeitern, die in den 60er-Jahren dazu beitrugen, dass der Wirtschaftsstandort Nordrhein-Westfalen überhaupt wieder so aufgebaut wurde und prosperieren konnte, wie wir es erlebt haben – all diese Generationen mit Einwanderungsgeschichte haben ihre spezifischen Spuren hinterlassen. Was ich mit Blick auf die Zuwanderung seit 2015 und durch den Ukraine-Krieg so wichtig finde, ist folgendes: Die Migranten-Organisationen, die hier bereits länger bestehen, verstehen sich heute selbst als eine Art Migrations-Agenten. Sie sind aktiv in der Integrationsarbeit, denn sie wollen aus ihrem eigenen Erfahrungswissen Brückenbauer auch für andere sein. Das ist nicht zuletzt Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins.

Ezder: Das kann ich nur unterstreichen. Das BFmF versteht sich deshalb als eine neudeutsche Organisation – ich selbst bin ein typisches Gastarbeiterkind, das mit vier Jahren nach Kerpen kam, und ich sehe mich als Teil dieser Gesellschaft. Gleichzeitig können wir für Neuankömmlinge intensive Unterstützung anbieten, weil wir deren Erfahrung selbst durchgemacht haben. 2015, als die ersten Geflüchteten aus Syrien und dem Irak hier ankamen, war es toll mitanzusehen, wie schnell vor allem die jungen Menschen die deutsche Sprache lernten und sich bereit erklärten, Nachzügler zu unterstützen.

Menschen aus 80 verschiedenen Ländern – viele aus der Ukraine

Woher kommen diese Menschen?

Ezder: Wir haben mit Menschen aus 80 verschiedenen Ländern zu tun, aktuell kommen natürlich viele aus der Ukraine. Was mich sehr stolz macht, ist die Tatsache, dass viele Jesidinnen sich an uns wenden – Frauen, denen von Muslimen unter der Gewaltherrschaft des IS oft Schreckliches angetan wurde. Dass diese Frauen uns vertrauen und etwa den Vorbereitungskurs zum Hauptschulabschluss besuchen, macht mich sehr glücklich. Religion spielt keine Rolle, weder bei den Teilnehmenden noch bei den Lehrkräften.

Paul: Zur interkulturellen Öffnung gehört essentiell Mehrsprachigkeit – das ist zum Beispiel eine Aufgabe für die öffentliche Verwaltung. Es geht darum, Informationen zugänglich zu machen, wodurch man nicht zuletzt signalisiert, dass man die Vielfalt unseres Landes erkannt hat. Das hilft auch dabei, Fachkräfte zu gewinnen, die dringend benötigt werden.

Frau Ezder, was wünschen Sie sich von der Politik noch, abgesehen von der nun aufgelegten Förderung?

Ezder: Unsere Organisation gibt es ja schon etwas länger, und ich würde mir wünschen, dass die Politik uns mehr bei der Sockelfinanzierung unterstützt. Die kirchlichen Träger bringen das über die Kirchensteuer zusammen – das fehlt uns. Wir versuchen, Mittel aus verschiedenen Töpfen zu akquirieren, um unsere Bildungs-, Beratungs-, Betreuungs- und Begegnungsangebote aufrecht zu erhalten.

Informationen

Das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen fördert 20 Projekte alevitischer und muslimischer Vereine in Höhe von insgesamt 1,9 Millionen Euro. Gefördert wird unter anderen bis Ende 2023 das Projekt des Begegnungs- und Fortbildungszentrums muslimischer Frauen (BFmF) e.V. in Köln, „Open – offen, empowernd, engagiert und vernetzt“. 

Gefördert werden auch Maßnahmen, mit denen insbesondere kleinere, lokal tätige Vereine ihre eigene Arbeit und die anderer muslimischer oder alevitischer Organisationen professionalisieren, zum Beispiel in Bezug auf Digitalisierung oder Inklusion.

Neben Open/BFmF gibt es beispielsweise folgende Vereine: „Mut zur Inklusion“ – Muslimische und alevitische Vereine auf dem Weg zum Miteinander unter dem Dach des Interkulturellen Instituts für Inklusion e.V. zur Öffnung, Sensibilisierung und Weiterbildung/Coaching von religiösen Gemeinden und anderen religiös geprägten Vereinen.

„Verarbeiten, vergeben, versöhnen“ der Kurdish European Society e.V., der es um Dialog  und Versöhnung zwischen Jesiden und Jesidinnen und Muslimen und Musliminnen geht.

„Schwerpunkt: Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ der Alevitischen Gemeinde Düsseldorf e.V. zur Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe von Frauen, Jugendlichen und Seniorinnen und Senioren.

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