„Als gesellschaftliche Akteure sichtbar werden“

DEUTSCHLAND, DEINE UMMA!

In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Wie viele kennen Sie? Wir stellen querbeet Menschen vor, die eine Gemeinsamkeit teilen: Sie sind Teil der Umma. Heute Erika Theißen.

Erika Theißen (66) ist in Köln geboren und lebt bis heute dort. 1988 heiratete sie den Elektroniker Assad Theißen. Eigene Kinder haben sie nicht, allerdings haben sıe viele betreut, darunter Pflegekinder. Erika Theißen ist Geschäftsführerin des Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e. V. (BFmF) in Köln. 2011 erhielt sie für ihr großes Engagement und ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz. Im Alter von 60 Jahren hat sie 2017 ihre Promotion in Bildungswissenschaften abgeschlossen.

IslamiQ: Sie sind Gründerin und Geschäftsführerin der Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e. V., kurz BFmF. Was sind die Ziele dieses Vereins? 

Erika Theißen: Das BFmF wird im nächsten Jahr 25 Jahre alt. Es handelt sich um eine sehr flexible, sich stetig weiterentwickelnde Institution, weshalb sich auch die Ziele im Laufe der Jahre geändert bzw. entwickelt haben. Anfangs ging es darum, für uns im Freundeskreis muslimischer Frauen, Räumlichkeiten zu schaffen, in denen wir uns ungestört treffen und uns gegenseitig unterstützen konnten. Diese Ziele wurden im Laufe der Zeit erweitert. Zunächst auf alle muslimischen Frauen, später auf alle Frauen. Es folgten Kompetenzkurse für Väter sowie Integrationskurse für Migranten. So wurde aus dem Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen eine offene Institution, die täglich für alle Menschen geöffnet hat. Da das Zentrum aus einem über 2.000 qm großen Gebäudekomplex besteht, ist ein Haus allerdings nach wie vor nur Frauen vorbehalten.

Das BFmF gilt inzwischen als Modell muslimischer Wohlfahrtspflege, da es eine Fülle von staatlich anerkannten und geförderten Angeboten aufgebaut hat. Täglich sind bis zu 800 Personen in der Institution, die von über 90 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sowie über 30 Honorarkräften und vielen Ehrenamtlichen beschult, beraten und betreut werden. Als muslimisches mittelständisches Sozialunternehmen besteht das Ziel darin, die fehlende Infrastruktur an passgenauer Beratung und Betreuung auch für die muslimischen Teile unserer Gesellschaft zu entwickeln und vorzuhalten. Inzwischen ist das BFmF Träger von drei Bildungswerken, sechs Beratungsinstitutionen, der freien Jugendhilfe, einer Integrationsagentur sowie verschiedenen Projekten u. a. zu interkulturellen und interreligiösen Themen.

IslamiQ: Wie ist die Resonanz auf Ihre Arbeit, sowohl von Muslimen als auch von Nichtmuslimen?

Theißen: Anfangs waren wir als emanzipierte muslimische Frauen sowohl Musliminnen als auch Nichtmusliminnen suspekt, einerseits zu autonom, andererseits zu konservativ. Inzwischen ist die Institution BFmF bekannt und wir genießen für unsere Arbeit von fast allen Seiten Respekt und Anerkennung. Wir werden auch von nichtmuslimischen Ratsuchenden aufgesucht und sind heute ein muslimischer Akteur für die vielfältige deutsche Gesellschaft.

IslamiQ: Was ist Ihre Motivation, in der Gesellschaft mitzuwirken?

Theißen: Eine Motivation, in der Gesellschaft mitzuwirken, besaß ich schon, bevor ich zum Islam konvertiert bin. Ich hatte schon Kindergruppen geleitet und ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit mitgewirkt. Nach meiner Konversion habe ich die Situation der Muslime in Deutschland und besonders die mangelhaften Bildungschancen zur Kenntnis genommen. Ich selbst erlebte auch Diskriminierungen aufgrund des Kopftuchs und nahm unterschiedliche Reaktionen auf meine Person mit und ohne Kopftuch wahr. Deshalb ging es mir darum, muslimische Frauen für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu unterstützen sowie Hilfsangebote gegen gesellschaftlich bestehende Ungleichheiten zu stiften.

IslamiQ: Welche Hobbies haben Sie, wie gestalten Sie ihre Freizeit am liebsten?

Theißen: Ich benötige zum Wohlbefinden mindestens einen einstündigen Spaziergang täglich. Den mache ich mit meinem Mann oder meinen Nichten, und wir reden dann über alle möglichen Themen. Für weitere Hobbys hatte ich in den letzten Jahren kaum Zeit, da ich eine sehr große Familie habe, viel mit den Kindern der Familie unternehme und sie auch beim Lernen unterstütze. Für meine Rentenzeit habe ich mir vorgenommen, wieder regelmäßig Sport zu treiben, ein Instrument zu erlernen, wieder mehr „Unterhaltungsliteratur“ zu lesen und mich auch religiös noch einmal intensiver zu bilden.

IslamiQ: Lieblingsbuch? Lieblingsfilm?

Theißen: Unterhaltungsliteratur lese ich sehr selten, wenn dann Fachbücher oder Aktuelles. Das Buch, das ich als Unterhaltungsliteratur zurzeit lese ist „Permanent Record“ von Edward Snowden. Ins Kino gehe ich gar nicht, auch Filme sehe ich, wenn, dann nur gemeinsam mit den Kindern der Familie, ich selbst sehe eigentlich nur Nachrichten, Diskussionssendungen oder Fachsendungen.

IslamiQ: Was bedeutet Familie für Sie?

Theißen: Sehr viel, eigentlich alles, ein großer Reichtum. Familie bzw. die einzelnen Personen sind für mich das Wichtigste im Leben. Da ich selbst aus einer großen Familie mit sechs Kindern stamme und ich das Glück habe, dass alle meine Geschwister noch leben, auch deren Kinder und wir alle in Köln leben, fühlte ich mich durch diese Einbindung immer sicher, stark, unterstützt und geschützt. Zudem kommt auch mein Mann aus einer großen Familie mit zehn Kindern, so dass wir auch von dieser Seite her über 50 Neffen und Nichten haben.

IslamiQ: Der schönste Moment in Ihrem Berufsleben?

Theißen: Es gab sehr viele schöne Momente in meinem Berufsleben, deshalb kann ich mich nicht auf den schönsten Moment festlegen. In jedem Jahr, wenn die Frauen der Schulabschlusskurse ihre Prüfungen bestanden haben und klar wird, welch großer Erfolg dies für ihr Leben bedeutet, ist es für mich eine tiefe Freude, dies ermöglicht zu haben. Seit fast 25 Jahren gab es immer wieder entsprechend der Zeit unterschiedliche tolle Momente, die mich sehr glücklich gemacht haben und bewirkt haben, dass ich mit Freude und Motivation weitermachte, auch wenn die Hürden manchmal unüberwindbar wirkten.

IslamiQ: Wie würden Ihre Freunde Sie beschreiben?

Theißen: Ich denke als Powerpaket, mit sehr viel Energie, die sich auf andere überträgt.

IslamiQ: Ihr Lebensmotto?

Theißen: Als Muslimin war und ist mein Lebensmotto, dass ich mein Handeln in die Hände Allahs lege, d. h. bei wichtigen Tätigkeiten übergebe ich hierdurch den Ausgang an Allah: „Ist es gut für mich, für meine Tätigkeit, lass es gelingen, ist es für mich und meine Zukunft/Arbeit nicht gut, verhindere es.“ Hierdurch konnte ich mich in schwierigen Situationen entlasten und auch schwere Lasten tragen, da ich mit der Unterstützung Allahs sicher war. Aber auch als Kind einer Kölner Familie bin ich durch eine gewisse positive Grundstimmung geprägt, nach dem Motto: „Et kütt wie et kütt, et hät noch immer jot jejange“. (Es kommt wie es kommt, es ist noch immer gut gegangen).

IslamiQ: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie erstmals mit der Identitätsfrage konfrontiert waren?

Theißen: Nachdem ich begonnen hatte das Kopftuch zu tragen und ich in den Geschäften und Behörden eine andere Behandlung als zuvor als „normale Deutsche“ erleben musste. Die Diskriminierung, die weite Teile unserer Gesellschaft mit Migrationshintergrund oder anderem Aussehen, täglich erleben, konnte ich hierdurch in Ansätzen nachvollziehen. Für mich als Deutsche wurde es zunehmend beschämend, dass muslimische Kinder es viel schwerer als christliche Kinder in Deutschland haben, im Spannungsfeld muslimischer Familie und deutscher Schule/deutschem Umfeld, eine gesunde Persönlichkeit und stabile Identität zu entwickeln.

IslamiQ: Was ist Ihr größtes Ziel in diesem Leben und was tun Sie um dieses Ziel zu erreichen?

Theißen: Das Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen als ein Modell muslimischer Wohlfahrtspflege in Deutschland mit den vielen anerkannten und geförderten Arbeitsbereichen entwickelt und etabliert zu haben war mein größtes Ziel. Der Aufbau und die erfolgreiche Weitergabe der Führung der Institution ist gelungen. Da ich mich an der Schwelle zum Ende der Berufstätigkeit befinde, ist im Moment das Ziel erreicht. Neue Ziele werde ich nach einer Ruhephase entwickeln.

IslamiQ: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Für sich selbst, für Ihre Familie, für alle Muslime in Deutschland.

Theißen: Für die Muslime in Deutschland wünsche ich mir eine gleichberechtigte Partizipation in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Ein Leben und Aufwachsen, besonders für die Kinder, ohne Diskriminierung. Wir sollten geachteter Teil der Gesellschaft sein. Utopische Wünsche – aber ich wünschte mir, dass es keine Waffen und Kriege gäbe und nicht so viele Menschen ihre Heimat als Flüchtlinge verlassen müssten. Ich wünschte mir gegenseitige Unterstützung innerhalb der Weltgesellschaft, statt Abgrenzung, Ausbeutung und Unterdrückung. Für mich selber wünsche ich mir besonders Gesundheit, damit ich nach Corona noch viele Reisen machen und viel von der Welt sehen kann.

IslamiQ: Was muss passieren, damit Muslime hier als selbstverständlicher Teil Deutschlands angesehen werden?

Theißen: Wir benötigen die gleichwertige Anerkennung des Islams im Rahmen des uns vom Grundgesetz verbrieften Rechts. Wir benötigen einen Diskussionswandel: rassistische, islamfeindliche und antisemitische Äußerungen dürfen im Fernsehen und bei öffentlichen Diskussionen keine Bühne bekommen. Extremistische Überzeugungen dürfen nicht unter dem Titel „Vielfältigkeit“ geduldet werden. Wir müssen uns gegenseitig stärken, Sprecher und Sprecherinnen anderer muslimischer Gemeinschaften auch als unsere Vertreter und Vertreterinnen akzeptieren. Damit nicht weiterhin Antimuslime oder Personen, die sich ihre eigene Religion unter dem Titel „liberaler“ oder “säkularer“ Islam erschaffen, als Vertreter von Muslimen in Deutschland agieren können.

Dass eine bekennend islamfeindliche Partei in Deutschland solche Erfolge feiert und viele Deutsche sich offen islamfeindlich äußern, ist eine erschreckende Entwicklung. Für die nächsten Jahre kommt deshalb die besondere Aufgabe insbesondere auf die jungen Muslime in Deutschland zu, mehr in Netzwerken für Vielfältigkeit in den Kommunen mitzuarbeiten und Mitglied politischer Parteien zu werden. Wir müssen uns in Gremien als Vertreter aufstellen und wählen lassen, bekennend muslimische Menschen müssen mehr als aktive gesellschaftliche Akteure sichtbar werden. Wir selber müssen mehr am deutschen gesellschaftlichen Leben teilnehmen, um wirklich ein Teil zu sein.

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